Der ewige Kampf – Tradition vs. Moderne

Konzert der Rolling Stones in Norwegen, 1965
Schon immer war die Tradition bedroht. Der aktuelle Hype: Digitalisierung! Was es damit auf sich hat und was schon heute Fakt ist, lest ihr hier.

Dieser Artikel ist zuerst in der Dezember-Ausgabe 2016 des stipendiatischen Magazins freiraum erschienen.

Dass Tradition auf dem Prüfstand steht, ist nicht neu – über aktuelle Herausforderungen

Unternehmerpreis 2016 in der Region Südwestfalen – immerhin die drittstärkste Wirtschaftsregion Deutschlands mit gut 150 Weltmarktführern, ausgestattet überwiegend mit industriellem Mittelstand: Auf dem Podium mit dem Thema „Start-Ups vs. Traditionsunternehmen“ sitzen Marco Oesterlein, International Business Development Manager bei Trilux, Prof. Dr. Ewald Mittelstädt, Prof. für Entrepreneurship an der Fachhochschule Südwestfalen, Daniel Brosowski, Mitgründer und Gesellschafter des Bewegtbild-Start-Ups FIUMU sowie Nic Lecloux, CMO und Mitgründer von truefruits. Die Diskussion war – unüblich für Veranstaltungen dieser Art – wirklich eine Diskussion: Der Trilux-Manager hatte mit einigem Gegenwind zu kämpfen, die Stimmung ist pro Venture Capital, pro Risiko, pro Aufbruchsstimmung. Verkrustete Strukturen, behäbige Unternehmenstanker, ewige Bewahrer sind out –niemand kann sie gebrauchen. Mut, Fortschrittswille und Lust darauf, Dinge einfach anders zu machen, auszuprobieren und im Zweifel auch mal zu scheitern, ist gerade hip. Sagt übrigens auch Christian Lindner.

Zwei Tage später, die dmexco in Köln. Es ist die weltweite Leitmesse für digitales Marketing. Google, Facebook, große Medienhäuser und Agenturen geben sich die Klinke in die Hand. Gut 50.000 Besucher hören 570 Speaker an zwei Tagen – es ist ein bunter Trubel, vor Ort ist die Stimmung nicht nur wegen des Wetters aufgeheizt. Die Buzzwords in vielen Gesprächen lauten Digitalisierung, Automatisierung, programmatic1, Storytelling, kurz und knapp: Der globalen Volkswirtschaft steht ein „disruptive change“2 bevor. Selbst in der Kreativwirtschaft, sagt der Head of Google Digital Academy für DACH, York Scheunemann, werden innerhalb der nächsten fünf bis zehn Jahre in der Betreuung acht von neun Arbeitsschritten komplett automatisierbar sein. Was das mit den Menschen macht? Die müssen sich anpassen!

Noch einen Tag später, ein paar Kilometer weiter südlich: Die GaLaBau 2016, die alle zwei Jahre stattfindende weltgrößte Messe für Garten- und Landschaftsbau, hat in Nürnberg bereits seit ein paar Tagen ihre Türen geöffnet. Große, mittlere und kleine GaLaBau-Betriebe treffen zwar auch auf Anwendungsentwickler – aber eben vielmehr auf Anbieter von Baumaschinen, einzelnen Bestandteilen wie Böden, verschiedene Materialien oder Profis in dem Bereich von Wasser im Garten. Der Kontrast könnte kaum größer sein – die Integration einer Software auf ein Smartphone gilt als Wunder, bei der Arbeit geht es darum, mit den eigenen Händen etwas zu schaffen, Dinge zu bewegen, handwerklich kreativ zu sein. Zwar helfen Maschinen und Roboter – der große Hype um selbst mähende Rasenmäher ist nach wie vor ein Umsatzgarant –, das echte Leben findet aber draußen, auf der Baustelle, statt. Hier scheint noch niemand etwas von dem unaufhaltbaren Schwung, dem Bruch mit der Tradition, mitbekommen zu haben.

Dabei sind die einschlägigen Branchenmagazine und Fachzeitschriften voll davon; der SPIEGEL droht bekannt arbeitnehmerfreundlich mit der Kündigung durch den Roboter, die brand eins titelt „Es denkt nicht für Dich“, kleinere Blätter wie die „impuls“ oder die „Südwestfälische Wirtschaft“, die Zeitung der ansässigen IHK, auch das „Unternehmermagazin Südwestfalen“ als Ausrichter des eingangs erwähnten Unternehmerpreises: Sie alle widmen sich in Sonderausgaben und eigenen, wiederkehrenden Rubriken mindestens den Themen Industrie 4.0 und Change Management durch Digitalisierung.

Dass das ein wichtiges Thema ist, bestätigen auch Kunden: Eine deutschlandweit, überwiegend für den gehobenen Mittelstand und Konzerne tätige Unternehmensberatung mit Schwerpunkt auf IT Projektmanagement bietet gezielte Beratung für Industrie 4.0, auch in Kooperation mit der öffentlichen Hand, an. Ein weiterer Kunde verleibt sich gerade ein Systemhaus ein – dieser Branche wurde vor fünf bis zehn Jahren durch die immer einfacher werdende Informationstechnologie bereits der Tod vorhergesagt. Und das unabhängige Führungskräftenetzwerk eines großen Telekommunikationskonzerns organisiert für seine Mitglieder eine deutschlandweite Workshop-Reihe zum Thema „Führung 4.0“.

All diese neutralen Beobachtungen aus dem Arbeitsalltag deuten darauf hin: Es passiert etwas da draußen. Traditionen, alt hergebrachte und erfolgreiche Strukturen, Vertrauen durch Gewohnheit – all das befindet sich so oder so massiv im Umbruch, selbst in good, old Germany. Dort ist der Einfluss von Elon Musk, Jeff Bezos, Mark Zuckerberg oder auch Sergej Brin zwar noch nicht so groß; dennoch gibt es auch hierzulande sehr erfolgreiche TV-Formate, etwa „Die Höhle der Löwen“, die auch den weniger hippen XHAIN-Einwohnern so etwas wie Gründungskultur und Aufbruchsstimmung näherbringen. Darüber hinaus reicht der Einfluss dieser Konzerne weit: Same-Day-Delivery in ausgewählten Großstädten, diverse bereits funktionierende Entwicklungen im Bereich des autonomen Fahrens, hier besonders im Bereich Gütertransport – all das sind Beispiele dafür, dass die digitale Entwicklung, die heute ein Großteil der Zielgruppe bereits in Form eines Smartphones jeden Tag selbst in der Hand hält, zunächst einmal ein unumstößlicher Fakt ist. Aus diesem Grund ist zumindest in der ohnehin alles hypenden Kommunikationsbranche schon lange vom auf das industrielle Zeitalter folgenden digitalen Zeitalter die Rede.

Schauen wir in die Vergangenheit des industriellen Zeitalters, fällt auf, dass auch schon damals massive Eingriffe in Produktionsverfahren zu drastischen Änderungen im sozialen Gefüge geführt haben, ein Bruch mit den bis dahin geltenden Normen stattfand, sich die Gesellschaft wirtschaftlich unter dem Strich weiterentwickelt hat, es aber dennoch sehr viele Herausforderungen auf sozialer Ebene gab. Das bricht zwangsläufig mit Traditionen und das führt zwangsläufig zu einem Konflikt der Generationen: Was vor 20 Jahren gut und erfolgreich war, muss heute kein Garant mehr für gesellschaftlichen oder sozialen Erfolg sein. Verhaltensweisen im Umgang mit Privatsphäre und Persönlichkeitsrechten haben sich ändern sich auch heutzutage drastisch deswegen, weil unsere Generation diese Privilegien von Anfang hatte und dementsprechend wenig sparsam damit umgehen muss. Eine globale Digitalisierung, eine Vernetzung zahlreicher Menschen und Kulturen untereinander muss deswegen zwangsläufig auch zu einem Überdenken der bis dato geltenden Traditionen führen.

Gleichzeitig – auch das darf und sollte niemals vergessen werden – sind Traditionen zunächst nichts anderes als auf Basis positiver Erfahrung oder Erinnerungen gelernte Verhaltensweisen. Sie haben also eine in der Regel positive Grundstimmung für die Menschen, die sich daran orientieren. Traditionen geben Halt und Sicherheit in einer Welt, die immer unübersichtlicher, chaotischer, größer, unkontrollierbarer erscheint. Die Konzentration auf alte Werte, die ein Unternehmen oder auch das Leben eines jeden Einzelnen zum Erfolg geführt haben, hat durchaus Vorteile. Auch Nic Lecloux von truefruits, dem Musterbeispiel für gelungenen Traditionsbruch, erzählte, wie er von erfahrenen Menschen auf Basis derer Verhaltensweisen noch erfolgreicher werden konnte. Für große Automobilunternehmen aus Deutschland ist die automobile Tradition immer noch ein Vertrauenstrumpf, den vertriebstechnisch zu schlagen kaum möglich ist – selbst, dann, wenn sich diese Unternehmen auch in Richtung Automatisierung oder Digitalisierung weiterentwickeln müssen.

Tradition ist also das Fundament, auf dem eine Gesellschaft aufbauen muss. Der Bruch mit Traditionen sowie die teilweise drastische, kreative Weiterentwicklung dieser Traditionen führt jedoch nicht zu einer vollkommenen Aufgabe des alten Wertegerüsts. Ganz im Gegenteil wird es nur intelligent verändert, sinnvoll auf die Zeit und die Herausforderung der neuen Generation angepasst und gibt hier wieder Halt, Sicherheit und Orientierung – sodass eine weitere Generation später auch dieses Wertesystem als vielleicht veraltet-verkrustete Tradition betrachtet wird. Dass es Umwälzungen, etwa die Digitalisierung, gibt, die besonders drastisch das vorhandene Wertegerüst attackieren, gilt als normal und kommt vermutlich ohnehin alle 100 bis 150 Jahre vor – wir müssen uns also keine Sorgen machen.

Und, ganz unter uns gesprochen, gibt es auch Traditionen, die so albern-kitschig sind, dass ich sie immer noch gerne lebe und weitertrage, denn: Welchen logischen Grund sollte es außer dem Christkind geben, dass an Heilig Abend die Türen zum Wohnzimmer noch immer abgeschlossen sind?

 

1Leider gibt es keine adäquat-einfache Übersetzung, die dieses Thema in den Satzbau hätte einfließen lassen können, daher hier nun die umfangreiche Erklärung: programmatic meint eigentlich progammatic advertising; das wiederum steht für voll-automatisierte Algorithmen, die in Echtzeit insbesondere Online-Werbung (aber auch klassische Medien wie TV) abhängig vom Nuterverhalten, entsprechenden Kontexten und Anfragen buchen können, um so eine maximal hohe Umwandlungsrate (conversion) zu erzielen. Das hält Streuverluste in der Kommunikation gering und gilt daher als höchst effizient.

2Schon wieder eine Fußnote – danach halte ich mich aber zurück; disruptive in der Welt der Digitalwirtschaft deutet an, dass ganze Branchen hinterfragt, umgewälzt und in Teilen ausgelöscht werden, populäre Beispiele der heutigen Zeit sind Airbnb oder insbesondere Uber – häufig ist das allerdings, wie im Fall von Uber zu sehen, auch auf eine verschlafene und wenig innovationsbereite Industrie zurückzuführen

Bildquelle für Titelbild: Øderud

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David Lucas, Jahrgang 1991, liebt Podcasts, Kochen und gutes Essen. Er interessiert sich für Politik, Digitalisierung und Technologie. In seiner Freizeit verbringt er viel Zeit mit seiner Familie  und dem Hund.

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